„Wenn wir einen Menschen hassen, so hassen wir in seinem Bild etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf.“

– ein Satz von Hermann Hesse, der oft zitiert wird. Vielleicht weil er so klug klingt. Vielleicht auch, weil er eine psychologische Universalformel anbietet, die elegant wirkt. Ein Spiegel statt ein Zeigefinger. Eine Einladung zur Selbstreflexion.

Ach komm, Hesse. Wirklich?
So schön wie du’s formulierst – so kurz denkst du.
Du tust gerade so, als sei jeder Hass eine Projektion.
Als sei immer der, der fühlt, der eigentlich das Problem.

Ich glaube, Hesse hat in diesem Fall zu früh aufgehört zu denken.
Er hat um es einfach zu sagen „von der Wand bis zur Tapete gedacht“, aber nicht weiter. Er hat nicht alle Möglichkeiten einbezogen und trotzdem alle über einen Kamm geschert. So etwas über alle zu sagen, ist nicht nur ein Denkfehler, es ist ein ethisches Versäumnis und ungerecht.
Es nimmt Menschen die Würde ihres echten Erlebens.

Was, wenn ich jemanden hasse – nicht weil ich so bin wie er, sondern weil ich so nie sein will?
Was, wenn ich jemanden hasse, weil er mich manipuliert, gedemütigt, belogen hat – und damit gegen alles verstoßen hat, was ich als Mensch für richtig halte?

Dann ist das kein Hass, der aus Projektion kommt, sondern aus einem tiefen, inneren Widerstand.
Ein Hass, der meiner Ethik widerspricht und gerade deshalb so brennt.
Weil etwas passiert ist, das meinem innersten ethischen Empfinden zuwiderläuft. Weil ich es nicht will. Weil ich es nicht sein will. Und weil ich es niemandem wünsche.
Das ist kein Schatten. Das ist moralische Integrität.
Und es ist ein Ausdruck von Klarheit, nicht von Unbewusstheit.

Ich sage also nicht: „Hesse liegt falsch.“
Ich sage: Er hat nicht weit genug gedacht.
Denn ja, es gibt Formen von Ablehnung, die aus dem eigenen Inneren kommen. Wir regen uns auf über Dinge, die in uns selbst unaufgelöst sind. Scham, Neid, Kränkung. Unausgesprochenes, das der andere ungewollt berührt. Da kann Hesses Satz passen.

Aber nicht auf ethischen Abscheu. Nicht auf den Zorn, der sagt: „Das war falsch. Das darf nie wieder jemandem passieren.“
Was Hesse beschreibt, mag auf einige Begegnungen zutreffen.
Aber nicht auf alle. Und gerade darin liegt die Schwäche des Satzes.
Er tut so, als sei jeder Hass ein Selbstproblem. Aber manche Formen des Hasses sind keine Projektionen. Sie sind eine Reaktion auf reale Grenzverletzungen. Es ist wichtig, das unterscheiden zu können.
Denn wer das nicht tut, macht den Verletzten zum Verursacher.
Wer alles weganalysiert, nimmt der moralischen Empörung ihre Würde.
Es ist wichtig, genau das zu unterscheiden – zwischen psychologischer Projektion und moralischer Empörung. Zwischen Eigenanteil und Fremdverletzung. Zwischen Selbstverrat und Integrität. Und das ist entscheidend.

Wer das tut, handelt nicht aus Überheblichkeit, sondern aus Wertbewusstsein. Und aus Unbestechlichkeit gegenüber dem eigenen moralischen Maßstab. Ich stehe nicht im Schatten meiner Projektion. Ich stehe im Licht meiner Werte. Und ich hasse nicht, weil ich mich selbst nicht erkannt habe. Sondern weil ich genau erkannt habe, was mir angetan wurde.

Ich habe anderes von Hesse gelesen, das tiefer geht.
Texte, in denen er abwägt, prüft, weiterdenkt und dafür: Respekt.
Aber hier ist ihm der Gedanke davongelaufen, bevor er bei der Wirklichkeit angekommen ist. Und Wirklichkeit, das weiß jeder, der mal geliebt und enttäuscht wurde, ist eben oft komplizierter als ein Satz.©RM

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